Verfassungsfeier der Bayerischen Einigung und Bayerischen Volksstiftung: Mit Nachdruck, Überzeugungskraft und sanfter Hand
Die Verfassung des Freistaates Bayern von 1946 als Teil der amerikanischen Demokratisierungspolitik nach 1945
Festansprache von Prof. Dr. Hermann Rumschöttel, Präsidium der Bayerischen Einigung e.V.
(Nachdruck aus dem Bayernspiegel, Festschrift Verfassungsfeier, München 2021)
Konstanten bayerischer Verfassungsgeschichte zwischen 1808 und 1946: Der Druck von außen, Fremdeinflüsse und Selbstbestimmung
Bayern feiert sich gerne. Die Bayerische Einigung/Bayerische Volkstiftung hat wesentlich dazu beigetragen, dass dabei die Verfassungsgeschichte nicht vergessen wird. Die Konstitution von 1808, die Verfassungs-Urkunde von 1818, die Bamberger Verfassung von 1919 und unsere heutige, Ende 1946 in Kraft getretene „Verfassung des Freistaates Bayern“ waren und sind immer wieder Anlass zu verfassungspatriotischer Erinnerung, zu Jubiläumsfeiern und Gedenkpublikationen. Man feierte und feiert Verfassungsgeschichte als eine Erfolgsgeschichte, die dem bayerischen Volk, der bayerischen Politik, dem bayerischen Staat zu verdanken ist. Dafür gibt es viele und gute Gründe.
Ein wenig in den Hintergrund tritt dabei die Tatsache, dass der Druck von außen und Fremdeinflüsse zu den Konstanten bayerischer Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert gehören. Ohne Napoleon und den Schatten einer Rheinbundverfassung ist die Konstitution von 1808 nicht zu verstehen, ohne den Druck von Wiener Kongress und der Deutschen Bundesakte nicht die Verfassungs-Urkunde von 1818, ohne Weimar, das Reich und die Reichsverfassung nicht die Bamberger Verfassung. Und ohne die amerikanische Militärregierung, ohne die Vereinigten Staaten von Amerika nicht unser heutiges Verfassungsdokument, dessen Entstehung einem amerikanischen Anstoß zu verdanken ist, das materiell von der Militärregierung ständig begleitet und beeinflusst wurde und schließlich von einem immer freundlicher gewordenen Feind unter Auflagen genehmigt worden ist.
Die Wissenschaft und die bayerische Landesgeschichtsschreibung sind dabei schon viel weiter als das allgemeine Geschichtsbewusstsein und das „Mia san mia“-Feeling des stolzen Staatsbayern. Schon der große bayerische Landeshistoriker Michael Doeberl hat 1918 beim Rückblick auf über ein Jahrhundert konstitutionelle bayerische Entwicklung das zusammenfassende Urteil gefällt: „Bayern hat in seinem Verfassungsleben seine Empfänglichkeit für Einwirkungen aus der Fremde wie seine Fähigkeit zu selbständiger, eigenartiger Verarbeitung des Empfangenen bekundet.“
Und was die amerikanischen Leistungen bei der Verfassunggebung und Demokratisierung des nach-nationalsozialistischen Bayern angeht, so liegen zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen von Barbara Fait, Reinhard Heydenreuter, Karl-Ulrich Gelberg, Thomas Schlemmer, Annette Zimmer und anderen vor, auf denen die nachfolgenden Ausführungen im Wesentlichen beruhen.
Auch die Landesgeschichtsschreibung, die sich an eine breitere Öffentlichkeit wendet und viele publizistische Äußerungen berücksichtigen den Forschungsstand. Unter der Überschrift „Hochgepäppelt aus Ruinen. Deutschland im Sommer `45. Warum es ein Glück war, den Krieg gegen die Amerikaner verloren zu haben“ schrieb Herbert Riehl-Heyse im Juli 1995 in der Süddeutschen Zeitung: „Das hat es ja in der Weltgeschichte nicht oft gegeben, dass ein Sieger den Besiegten, dessen Schuld nun wirklich deutlich zutage lag, nicht mit Gewehrkugeln und nicht mit riesigen Reparationsforderungen bestrafen, dass er ihm stattdessen helfen wollte, aus welchen Gründen auch immer. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Sieger auch weltpolitische, machtpolitische Motive hatten für ihre Hilfe. Und trotzdem ist es einmalig, wie da den zu Boden gegangenen wieder auf die Beine geholfen wurde, finanziell und ideell.“
Dass uns diese amerikanische Hilfestellung gerade bei Verfassungsjubiläen nicht immer im angemessenen Maße bewusst war und ist, kann man vielleicht als eine späte Nachwirkung der Skepsis ansehen, mit der von manchen Zeitgenossen die Demokratisierungsaktivitäten der Militärregierung betrachtet worden sind. Zudem haben herausragende Persönlichkeiten der bayerischen Reformkräfte und der neuen politischen Funktionselite wie Wilhelm Hoegner oder Hans Nawiasky mehrfach den amerikanischen Einfluss klein geredet und klein geschrieben in der guten Absicht, dadurch die Akzeptanz der Verfassung in der bayerischen Bevölkerung zu erhöhen.
Die Bayerische Einigung/Bayerische Volksstiftung hat das 75-jährige Jubiläum der Bayerischen Verfassung von 1946 als eine gute Gelegenheit angesehen, die historischen Leistungen der Amerikaner in und für Bayern dankbar zu würdigen und sich über die bis heute geltende Verfassung als Gemeinschaftswerk der US-Militärregierung und der um einem demokratischen Wiederaufbau bemühten bayerischen Politiker der Nachkriegszeit zu freuen. In diesem Sinne wurde das traditionelle, 1967 begründete Verfassungsfest im Jahr 2021 unter dieses Generalthema gestellt.
Die Organisation der amerikanischen Militärregierung
Im seit April/Mai 1945 von der amerikanischen Armee besetzten Deutschland wurde der Militärregierungsapparat allmählich aus den G-5 Stabsabteilungen der Kampfverbände herausgelöst, die speziell für zivile Angelegenheiten zuständig waren. Für ganz Bayern fungierte seit dem 15. Mai 1945 in München das Regional Military Government Detachment E1F1 (RMG) unter Colonel Charles E. Keegan. Wie überall, so standen auch hier die Aufgaben zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung, der organisatorische und personelle Aufbau von Verwaltungsinstitutionen, die Sicherung von Ernährung, Wohnraum und medizinischer Versorgung sowie Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Ermittlung und Bestrafung von Kriegsverbrechern ganz im Vordergrund der Aktivitäten. Für das Verhältnis zur bayerischen Bevölkerung waren Distanz und Fraternisierungsverbot vorgegeben. In der grundsätzlichen amerikanischen Handlungsrichtlinie, der Direktive JCS 1067, die offiziell von April 1945 bis Juli 1947 galt, hieß es unmissverständlich, dass Deutschland nicht aus Gründen der Befreiung, sondern als geschlagene Feind-nation besetzt werde. Die Besatzungsrealität entfernte sich allerdings bald und aus unterschiedlichen pragmatischen und prinzipiellen Gründen von dieser harten Ausgangsposition.
Im Juni 1945 wurde Bayern als Eastern Military District des amerikanischen Besatzungsgebiets der 3. US-Armee zugewiesen, dessen Oberbefehlshaber George S. Patton auch das Amt als bayerischer Militärgouverneur ausübte und dessen G-5 Abteilung des Generalstabes das Münchner RMG unterstand. Zum 1. Oktober erfolgte die Zusammenführung von RGM und der G-5 Abteilung zu einem neuen Office of Military Government unter der Leitung eines Direktors. „In the Eastern Military District, the regional military government detachment and G-5 Section of the army will be designated the Office of Military Government for Bavaria.“
An der Spitze dieses „Office of Military Government for Bavaria“ (OMGBY) standen General Walter J. Muller (bis November 1947), bisher in der 3. US-Armee für die Logistik zuständig, und Colonel Roy L. Dalferes, bisher Leiter der G-5 Stabsabteilung der 3. US-Armee. Das Office of Military Government for Bavaria waren direkt der amerikanischen Militärregierung in Berlin (OMGUS) nachgeordnet, die von General Lucius D. Clay geleitet wurde.
Lucius D. Clay und die Initiative zur Verfassunggebung in den Ländern der US-Zone
Am Beginn der Verfassunggebung in den Ländern der US-Zone, also in Bayern, Württemberg-Baden und Hessen stand ein Befehl der amerikanischen Militärregierung, konkret eine entsprechende Willensäußerung des stellvertretenden Militärgouverneurs und Chefs von OMGUS, Lucius D. Clay. Es war in erster Linie seine, im Herbst 1945 entwickelte Vorstellung, dass noch im Jahr 1946 die unter US-Herrschaft stehenden Länder nicht nur über eine feste konstitutionelle Grundlage verfügen sollten, sondern an der Spitze auch über Regierungen, die von einer parlamentarischen Mehrheit getragen wurden. In enger Verbindung damit standen Clays Wünsche nach einer Aktivierung des politischen Lebens durch Wahlen. Schon im Oktober 1945 sah er die Zeit gekommen, „Demokratie“ und Wertewandel dadurch zu stärken. In einem Bericht an den amerikanischen Kriegsminister schrieb er: „It seems to me time to take the next step, to hold elections.“
Sowohl bei seinem Wunsch nach Wahlen, die die Bevölkerung politisch mobilisieren sollten, als auch bei seiner Vorstellung, so rasch als möglich in der US-Zone Länderverfassungen erarbeiten und in Kraft treten zu lassen, musste er sich über starke Widerstände seiner engeren Berater, über Bedenken aus Washington, aber auch über Wünsche und Vorschläge der Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone hinwegsetzen, die eine Verschiebung unter anderen bis zur endgültigen Etablierung politischer Parteien für nötig hielten. Clay beharrte auf seinen Vorstellungen und seinem Zeitplan und so erfolgte mit den Gemeindewahlen im Januar 1946, nur 8 Monate nach der bedingungslosen Kapitulation, ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einer Re-Demokratisierung von unten nach oben.
Auch bei der Verfassunggebung drängte er zur Eile. Im November oder Anfang Dezember 1945 erteilte er seinem Berater James Kerr Pollock, im Zivilleben Staatsrechtsprofessor an der Universität Michigan, den Auftrag, mit den Ministerpräsidenten der US-Zone über die Möglichkeit von Wahlen von Verfassunggebenden Landesversammlungen zu sprechen, für die Clay die Monate Mai oder Juni 1946 vorschwebten. Zwar rieten Wilhelm Hoegner und die anderen Länderchefs von einem solchen engen Zeitplan ab, aber Pollock schloss sich letztlich Clays Vorschlägen an, an denen er festhalten solle, wenn es das amerikanische Ziel sei, „to speed up the restoration of Democratic institutions.“
Auch ein auf Zeit spielender, höchst sachkundig besetzter Arbeitsausschuss der OMGUS-Civil Administration Branch – unter anderen gehörte diesem der 1933 von München in die USA emigrierte Verfassungsrechtler Carl Loewenstein an – konnte Clay nicht umstimmen. Nach dem von ihm aufmerksam beobachteten und im Ergebnis positiv beurteilten Gemeindewahlen beauftragte er die Direktoren der Militärregierungen in Bayern, Hessen und Württemberg-Baden, zwischen dem 26. Mai und den 30. Juni 1946 Wahlen zu Verfassunggebenden Landesversammlungen auf den Weg zu bringen. Clays enger Zeitplan sah ferner vor, dass spätestens bis Ende des Jahres die Länder über genehmigte Verfassungen und demokratisch legitimierte Regierungen verfügen sollten.
In Bayern informierte Wilhelm Hoegner am 30. Januar 1946 sein Kabinett, dass die Militärregierung ihm den Auftrag gegeben habe, „eine Kommission für die Ausarbeitung einer bayerischen Verfassung in Vorschlag zu bringen“. Am 8. Februar 1946 wurde dieser Auftrag von Walter J. Muller in offizieller Form erteilt. Nun nahmen die Dinge ihren Lauf und die Wahlen zur Verfassunggebenden Landesversammlung fanden schließlich tatsächlich am 30. Juni 1946 statt.
Es ist also nicht übertrieben, wenn man in General Lucius D. Clay den Initiator und spiritus rector der Bayerischen Verfassung sieht. Der 1897 geborene Soldat war 1945 Stellvertreter Eisenhowers und der eigentlich Verantwortliche für die amerikanische Militärregierung in Deutschland geworden. Von 1947 bis 1949 fungierte er als Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland.
Im Rahmen seiner Möglichkeiten betrieb und förderte er eine demokratisierende, liberale und marktwirtschaftlich ausgerichtete Besatzungspolitik, die wesentlich das Leben in den Ländern der US-Zone in den Jahren des Neuanfangs und Wiederaufbaus prägte. Die Bayerische Verfassung von 1946 hat mehrere Väter; einer davon ist Lucius D. Clay.
US-Motive der Verfassunggebung und Demokratisierung
Welche Interessen und Zielvorstellungen standen hinter Clays Drängen, in der amerikanischen Zone möglichst rasch den Weg von Demokratisierung und Verfassunggebung zu beschreiten? Die Quellen lassen verschiedene Motive erkennen, deren jeweilige Gewichtung nicht leicht zu ermitteln ist.
Obwohl „Demokratisierung“ in den ersten Monaten der Besatzungsherrschaft nicht im Vordergrund der amerikanischen Aktivitäten stand, darf man doch davon ausgehen, dass sie als politisch-ideelle weltanschauliche Basis bei Clay von Anfang an zu den fundamentalen Triebkräften seinen Handelns gehörte. Je mehr er erkannte, dass es auf deutscher Seite personelle und politische Anknüpfungspunkte gab, die dem Demokratisierungsprozess den Charakter gemeinschaftlichen Vorgehens verliehen, verfestigte sich seine Überzeugung, dass es richtig sei, den zögerlichen, Zurückhaltung empfehlenden Beratern nicht nachzugeben. Die kommunalen Januarwahlen 1946 sind hierfür ein überzeugendes Beispiel. In einem größeren Rahmen konnte sich Clay auch von den Festlegungen des Potsdamer Abkommens gestärkt fühlen, mit denen die Alliierten eine Demokratisierungspolitik fördern wollten.
Aber Clay dachte natürlich nicht nur politisch-ideell, sondern auch ökonomisch. Die hohen und laufend steigenden Besatzungskosten, ein Punkt öffentlicher Kritik auch in der amerikanischen Heimat, konnten nur reduziert werden, wenn man möglichst rasch und möglichst umfänglich administrative und organisatorische Aufgaben an deutsche Institutionen und Personen übertragen und sich auf Kontrollfunktionen beschränken konnte.
Am Ende des Jahres 1945 bestand der personelle Apparat des Office of Military Government for Bavaria aus 1.415 Offizieren und 2.678 Soldaten, insgesamt also 4.093 Mann. In Wahlen, Parteizulassungen und einer Verfassung sah man Möglichkeiten, die mehrfach beklagte politische Apathie der bayerischen Bevölkerung zu überwinden und Mitwirkungsbereitschaft, Engagement und Mitverantwortung zu fördern, Vertrauen und Zukunftsperspektiven bei den bayerischen Menschen zu stärken – und das Personal der Militärregierung zu reduzieren. Ende 1946 gehörten OMGBY nur mehr 1.543 Personen an, 513 Offiziere, 417 Zivilangestellte und 613 Soldaten.
Auch das Ziel eines föderalistischen und dezentralisierten Aufbaus des neuzuordnenden Deutschlands spielte bei der amerikanischen Politik der Verfassunggebung in den Ländern ihrer Zone eine wichtige Rolle, wobei man zugleich gegen davon abweichende Vorstellungen der anderen Besatzungsmächte Zeichen setzen und Fakten schaffen wollte.
Die OMGUS-Proklamation Nr. 2 vom 19. September 1945 hatte in der amerikanischen Besatzungszone „Verwaltungseinheiten gebildet, die von jetzt ab als Staaten bezeichnet werden; jeder Staat wird eine Staatsregierung haben“. Damit waren Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden errichtet. Verfassungen sollten die Länderregierungen demokratisch legitimieren und deren Stellung und Selbstbewusstsein in einem neuen Deutschland stärken.
Auch hier gab es ökonomische Erwägungen. Es ging um starke Länder, mit denen man eine Wirtschaftseinheit verwirklichen konnte. „Angesichts der prekären Lage der deutschen Wirtschaft war (…) die Eile, mit der Clay sein Demokratisierungsprogramm durchzuziehen bemüht war, völlig plausibel.“ (Barbara Fait).
Schließlich ist als Motiv auf die Entwicklung der internationalen politischen Lage, die zunehmenden Spannungen zwischen den westlichen Besatzungsmächten und der Sowjetunion zu verweisen. Stabilisierung im eigenen Machtbereich erschien vor dem Hintergrund des West-Ost-Verhältnisses als eine wichtige politische Aufgabe, um den Rücken frei zu haben für Konflikte, die sich bereits am Horizont abzeichneten.
US-Methoden der Verfassunggebung und Demokratisierung
Die Bedeutung der Verfassunggebung im Denken und Handeln Clays kam auch darin zum Ausdruck, dass er diese nicht nur aus organisatorischen Gründen – es waren alle Länder der US-Zone betroffen – als eine Aufgabe der amerikanischen Militärregierung insgesamt (OMGUS) verstand. In diesem Sinne lag die Zuständigkeit bei der Civil Administration Division (CAD) von OMGUS und einem dafür geschaffenen „Committee on German Governmental Structures“. In einer Kombination von klaren Vorstellungen über die Grundlinien und roten Linien, zurückhaltender Kontrolle und gleichsam vertrauensvollem gewähren und machen lassen, nahm man meist nur indirekt, durch persönliche Gespräche und Überzeugungsarbeit und durch ständige Beobachtung Einfluss auf die Verfassungsberatungen. Barbara Fait und Thomas Schlemmer haben zu Recht betont, dass sich die Besatzungsbehörden darum bemühten, „den Akt der Verfassunggebung aus dem Besatzungsalltag herauszulösen“ und eine „Atmosphäre von Freiheit“ (Lucius D. Clay) zu schaffen, in der die bayerischen bzw. deutschen Politiker ihre Vorstellungen frei entfalten konnten.
Diese Zurückhaltung im methodischen Vorgehen und die oftmals – aber nicht immer – indirekte Einflussnahme der Besatzungsbehörden dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anteil der Militärregierung an der Entstehung und dem materiellen Inhalt der Verfassung erheblich gewesen ist. „Tatsächlich nahm die Militärregierung“ – so Karl-Ulrich Gelberg 2003 in Korrektur der bisherigen Forschung – „in umfangreichem Maße und auch substantiell Einfluss auf zahlreiche Artikel der Verfassung.“ Den Protokollen der vorberatenden bayerischen Organe lassen sich die Vorgabe und die Akzeptanz amerikanischer Änderungswünsche in vielen Fällen nicht entnehmen,
Als amerikanischer Beobachter von OMGUS begleitete Roger H. Wells, im Zivilleben Professor für Politische Wissenschaften, die bayerischen Beratungen. Er ließ sich laufend von Mitarbeitern informieren und nahm auch vereinzelt selbst an den Sitzungen teil. Am 7. August 1946 stellte er im Verfassungsausschuss der Verfassunggebenden Landesversammlung als weitere amerikanische Sonderberater in der Frage der Landesverfassung und ständige Ansprechpartner für die bayerische Seite Albert C. Schweizer und John P. Bradford von der Civil Administration Division der amerikanischen Militärregierung in Bayern vor. „Wir stehen ihnen jederzeit zur Verfügung und würden gern von Zeit zu Zeit zwanglos mit ihnen zusammenkommen. Wir beabsichtigen nicht, an irgendwelchen Sitzungen ihrer Ausschüsse oder der Verfassunggebenden Landesversammlung selbst teilzunehmen, aber wir hoffen, dass die Fraktionsführer und die Mitglieder des Verfassungsausschusses ihre Probleme frei und ungezwungen mit uns besprechen werden.“
Die bei der Entstehung der Bayerischen Verfassung von den Amerikanern praktizierte Methode, durch Hintergrundgespräche, Anregungen und Empfehlungen bei gleichzeitig deutlicher Sprache entscheidenden Einfluss zu nehmen, kennzeichnet bis 1949 auch das Verhältnis von OMGBY und bayerischer Gesetzgebung.
Insgesamt gesehen ist die Bayerische Verfassung von 1946 ein Gemeinschaftswerk von Lucius D. Clay, amerikanischen Militärregierungsstellen (OMGUS, OMGBY), Washingtoner Ministerien und den bayerischen Politikern in den verschiedenen vorberatenden und verfassunggebenden Gremien, wobei Wilhelm Hoegner aus verschiedenen Gründen eine besondere Rolle zugebilligt werden muss.
Verfassungsentstehung in Bayern: Die konkreten Abläufe
Der zeitliche Ablauf der konkreten Verfassunggebung in Bayern ist rasch erzählt. Der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner, von den Amerikanern Ende September 1945 zum „Minister President of the State of Bavaria“ ernannt, war bereits vorinformiert, als er am 8. Februar 1946 den offiziellen Auftrag erhielt, „eine Kommission für die Ausarbeitung einer bayerischen Verfassung in Vorschlag zu bringen“. In dem neunköpfigen Gremium, dem Vertreter der SPD, der CSU und der KPD angehörten, übernahm er selbst den Vorsitz. Der renommierte Staatsrechtler Hans Nawiasky, mit dem Hoegner im Schweizer Asyl Gespräche über die Verfassungszukunft Bayerns und Deutschlands geführt hatte, wurde als Sachverständiger beigezogen.
Es ging weit über die Vorstellungen der Amerikaner hinaus, dass Hoegner diesem Vorbereitenden Verfassungsausschuss bereits bei der konstituierenden Sitzung den „Entwurf einer Verfassung des Volksstaates Bayern“ vorlegte. Vorarbeiten aus dem Schweizer Asyl erweiterte Hoegner in kurzer Zeit zu einem Text, der in Umrissen bereits die endgültige Verfassung in Form und Inhalt erkennen ließ. Diese Präjudizierung der nun folgenden Beratungen ist ein wesentlicher Grund für den starken Anteil bayerischer und deutscher Verfassungsvorstellungen, die sich an der Weimarer und der Bamberger Verfassung orientierten, wobei man deren als Fehler oder Demokratiegefährdung bewertete Regelungen vermeiden wollte. Die amerikanischen Einflüsse wurden dadurch in erheblichem Umfang zu Korrekturen, Modifikationen, Streichungen und Ergänzungen. Ein wenig erinnert dieses „Vorpreschen“ Hoegners an die Eile Maximilian von Montgelas bei der Erarbeitung der bayerischen Konstitution von 1808 zur Abwehr von zu starken Vorgaben und Eingriffen Napoleons.
Das Ergebnis der Arbeit des Vorbereitenden Verfassungsausschusses ging in der zweiten Maihälfte an die Militärregierung und wurde bei OMGUS von dem erwähnten „Interdivisional Committee on German Governmental Structure“ geprüft. Ergebnis war eine Denkschrift zu den Verfassungsentwürfen von Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden, die dann bei den Beratungen der Verfassunggebenden Landesversammlung zum Grundlagenmaterial gehörte.
Die bayerische Verfassunggebende Landesversammlung, Ergebnis der ersten landesweiten demokratischen Wahlen am 30. Juni 1946, hatte zwar eine parteipolitische Zusammensetzung mit eindeutigen Mehrheitsverhältnissen (CSU 109, SPD 51, KPD 9, Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung/WAV 8 und FDP 3 Sitze), aber diese hatten keine größere Bedeutung für die vornehmlich konsensorientierten Verfassungsberatungen. Der ständige Blick auf die Besatzungsmacht hat dieses typische politische Nachkriegsverhalten erkennbar gestärkt.
Die eigentliche Arbeit leistete der aus 21 Mitgliedern bestehende Verfassungsausschuss der Verfassunggebenden Landesversammlung, in dem vor allem Wilhelm Hoegner und die CSU-Abgeordneten Hans Ehard, Alois Hundhammer und Michael Horlacher für Kompromissformeln und Einmütigkeit sorgten. Der Ausschuss legte der Landesversammlung einen „Entwurf einer Bayerischen Verfassung“ sowie einen ergänzenden Bericht vor, in dem die wichtigsten strittigen Fragen – das Amt eines Staatspräsidenten und der Wunsch nach einer Zweiten Kammer, einem Senat – thematisiert wurden. Am 26. Oktober 1946 nahm die Landesversammlung den Entwurf an, nachdem Lucius D. Clay bereits am 24. Oktober seine Zustimmung erteilt hatte, allerdings verbunden mit einer eindeutigen Interpretation des Artikels 178. Der Beitritt Bayerns zu einem zukünftigen deutschen Bundesstaat sei nicht fakultativ, sondern obligatorisch. Dieser deutliche und harte Eingriff Clays ist eines der ganz wenigen Beispiele direkter und kompromissloser amerikanischer Einflussnahme und eine direkte Folge der US-Deutschlandpolitik.
Am 1. Dezember 1946 konnte die bayerische Bevölkerung über den Verfassungsentwurf abstimmen und zugleich den ersten Nachkriegslandtag wählen. Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 76 % stimmten 70 % für die neue Verfassung, die Hoegner am Tag darauf ausfertigte und die schließlich am 8. Dezember in Kraft trat. Lucius D. Clays Zeitvorstellungen hatten sich in vollem Umfang erfüllt.
Die konkrete amerikanische Einflussnahme *(Einzelbeispiele)
Die Vorgaben der Militärregierung für den Verfassungsinhalt hielten sich zunächst in engen Grenzen. Die Verfassung sollte einen Grundrechtskatalog und einen weitgehenden Schutz der Grundrechte enthalten. Hier war der amerikanische Druck erheblich und nicht ohne Grund ist in der Forschung festgestellt worden, dass erst die Militärregierung den bayerischen Verfassungspolitikern ein modernes Grundrechtsverständnis vermittelt hat. Am 22. Oktober 1946 berichtete Hoegner von einem Gespräch mit Roger H. Wells: „Er hat uns dargelegt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika die Ausnahmen von den Grundrechten durch den höchsten Gerichtshof im Laufe der Zeit geschaffen und umgrenzt worden sind. Mr. Wells hat anerkannt, dass wir selbstverständlich nicht auf eine Entwicklung des Verfassungslebens von 150 Jahren zurückblicken können.“ Der dezidierte Schutz der Grundrechte und die Einführung des in Deutschland und Europa einmaligen Jedermannsrecht der Popularklage vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof haben kräftige amerikanische Wurzeln.
Die zweite „rote Linie“, die den Spielraum der Verfassunggebenden Landesversammlung einschränkte, war der amerikanische Wunsch, die Verfassung solle Regelungen enthalten, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf „gesamtdeutsche“ Institutionen ermöglichten. Allen fundamental-föderalistischen oder separatistischen bayerischen Vorstellungen war damit der Boden entzogen. Und das in einer politischen Gesamtsituation, in der man in Bayern intensiv über staatliche Souveränität und Selbstständigkeit nachdachte. In der letzten Sitzung der Verfassunggebenden Landesversammlung wurde ein Brief General Clays verlesen, der apodiktisch jede Art von Partikularismus oder Separatismus ausschloss und ausdrücklich formulierte, dass der in die Verfassung (Art. 178) aufgenommene bayerische Wille, einem zukünftigen deutschen Bundesstaat beizutreten nicht als Recht, sondern als alternativlose Pflicht zu verstehen sei.
An dieser Stelle können nicht die zahlreichen amerikanischen Interventionen zu einzelnen Verfassungsartikeln angesprochen oder alle Streichungen – etwa der Bestimmungen über die Planwirtschaft, die staatliche Überwachung des Geld- und Kreditwesens und des Außenhandels – im Detail erläutert werden. Wichtig war den Amerikanern die Garantie der örtlichen Selbstverwaltung, die politische Neutralität der Beamten, die Festlegung ihrer Leistungen durch Prüfungen im Wege des Wettbewerbs sowie das Bekenntnis zum „demokratisch-konstitutionellen Staat“.
„Moniert wurden u. a. die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts bei der Normenkontrolle, der Ausschluss der Öffentlichkeit bei Landtagsverhandlungen, der nicht an Bedingungen geknüpft war, sowie die Zwangsmitgliedschaft in kulturellen Körperschaften, Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft und Organisationen der Verbraucher und Erzeuger.“ Das Notstandsrecht wurde befristet, die Verpflichtung der Presse zu sachlicher Berichterstattung gestrichen – „darin hatte die Militärregierung einen Ansatzpunkt für Pressezensur gesehen – und bei der Wahl der Senatoren (wurde) die Formel ‚nach demokratischen Grundsätzen‘ ergänzt.“ (Karl-Ulrich Gelberg). In Artikel 184 musste ein Vorrang für die Entnazifizierungsgesetze der unmittelbaren Nachkriegszeit normiert werden: „Die Gültigkeit von Gesetzen, die gegen Nationalsozialismus und Militarismus gerichtet sind oder ihre Folgen beseitigen wollen, wird durch diese Verfassung nicht berührt oder beschränkt.“
Bleibt das zusammenfassende Urteil eines nicht unerheblichen amerikanischen Einflusses auf den materiellen Inhalt der Bayerischen Verfassung, als deren Orientierungsmuster also keineswegs nur die Weimarer und die Bamberger Verfassung sowie von Hoegner und Nawiasky in der Schweiz gewonnene Einsichten und Erfahrungen gesehen werden dürfen. Auffallend bei den Interventionen ist der Eindruck, dass Vorgaben, die von Lucius D. Clay persönlich kamen, unverzüglich umgesetzt worden sind. In den anderen Fällen scheint es gewisse Spielräume bei der Erörterung gegeben zu haben.
Amerika und die Wiedererrichtung der Demokratie *in Bayern (1945-1952): Der größere Rahmen
Der Einfluss der Amerikaner auf die Entstehung und die Formulierung der Bayerischen Verfassung 1946 war lediglich ein Teilbereich der Bemühungen der Militärregierung um Demokratisierung, demokratische Erneuerung, rechtsstaatlichen Wiederaufbau, „reorientation toward democracy and peace“, war ein Segment im weiten Feld der amerikanischen Politik- und Kulturoffensive in den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wichtige Wurzeln dieser Offensive reichen bis in die Zeit der Vorbereitung und Schulung des Militärregierungspersonals zurück. Schon im Mai 1942 begann die neue School of Military Government in Charlottesville (Virginia) mit ihrem Schulungsprogramm. Thomas Schlemmer hat mit Blick auf Bayern zusammenfassend festgestellt: „Die Qualität des in den USA ausgebildeten Militärregierungspersonals, auf dessen Auswahl die zuständigen Rekrutierungsbüros der Army einige Sorgfalt verwendet hatten, war erstaunlich hoch.“
Im Rahmen der vorliegenden, auf die Verfassunggebung zielenden Ausführungen kann auf das umfassende Spektrum der amerikanischen Initiativen und Projekte nur kurz hingewiesen werden. Es reicht von den Aktivitäten der Kunstschutzoffiziere in der kämpfenden Truppe, beispielsweise dem Retter der Tiepolo-Fresken in der Würzburger Residenz John D. Skilton, bis zu den vielfältigen Aktivitäten der Kreis Resident Officers (1949-1952), die Thomas Schlemmer als McCloys Botschafter in der Provinz bezeichnet hat; er reicht von der zunächst mit strengen Auflagen und Kontrollen verbundenen Zulassung politischer Parteien über die Lizensierung der Presse bis zu den nicht sehr erfolgreichen Versuchen, traditionelle Strukturen im Bildungsbereich, in der Handwerksorganisation oder im öffentlichen Dienst zu verändern, zu modernisieren. Ganz im Vordergrund standen zunächst die politische Säuberung und Entnazifizierung, deren Bilanz zwar zwiespältig ist, die aber dennoch einen unverzichtbaren Beitrag zu einer demokratischen Erneuerung geleistet haben. Vieles muss hier ungesagt bleiben, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass man in der Verfassungsinitiative und der Verfassungsförderung die Highlights der amerikanischen Demokratisierungspolitik nach 1945 in Bayern und Deutschland sehen darf.
Literaturhinweise:
Barbara Fait: „In einer Atmosphäre von Freiheit“. Die Rolle der Amerikaner bei der Verfassunggebung in den Ländern der US-Zone 1946, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33 (1985), S. 420-455.
Barbara Fait: Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner. Amerikanische Kontrolle und Verfassunggebung in Bayern 1946, Düsseldorf 1998.
Karl-Ulrich Gelberg: Unter amerikanischer Besatzung 1945-1949, in: Alois Schmid (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte Band IV/Erster Teilband, Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, München 2003, S. 646-802.
Karl-Ulrich Gelberg: Die Protokolle des Vorbereitenden Verfassungsausschusses in Bayern, München 2004.
Reinhard Heydenreuter: Office of Military Government for Bavaria, in: Christoph Weisz (Hrsg.): OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949, S. 143-315.
Wilhelm Hoegner: Besatzungsmacht und bayerische Verfassung von 1946. Zum zehnjährigen Bestehen der bayerischen Verfassung, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1956, S. 353-354.
Maximilian Lanzinner: Zwischen Sternenbanner und Bundesadler. Bayern im Wiederaufbau 1945-1958, Regensburg 1996.
Heinrich Oberreuter/Jürgen Weber (Hg.): Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München und Landsberg am Lech 1996. In diesem Sammelband vor allem:
Thomas Schlemmer: Der Amerikaner in Bayern. Militärregierung und Demokratisierung nach 1945, S. 67-99.
Hermann Rumschöttel: Stationen, Verbindungen und Weichenstellungen der bayerischen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Horst Gehringer u. a. (Hrsg.): Demokratie in Bayern. Die Bamberger Verfassung von 1919, Bamberg 2019, S. 19-35.
Hermann-Josef Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945-1952, Opladen 1993.
Thomas Schlemmer: McCloys Botschafter in der Provinz. Die Demokratisierungsbemühungen der amerikanischen Kreis Resident Officers 1949-1952, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 265-297.
Annette Zimmer: Demokratiegründung und Verfassungsgebung in Bayern. Die Entstehung der Verfassung des Freistaates Bayern von 1946, Frankfurt a. M. 1987