In Bayern existiert jüdisches Leben seit 1000 Jahren

Das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland war der Anlass für ein Pressegespräch der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch und dem Antisemitismusbeauftragen der Bayerischen Staatsregierung Dr. Ludwig Spaenle MdL mit dem Landesvorsitzenden des Bayernbundes Sebastian Friesinger.

 

Das Jubiläum geht auf die erste Nennung einer jüdischen Gemeinde in Köln in einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin im Jahr 321 zurück. Dr. Spaenle führte aus, dass jüdisches Leben in Bayern rund 1.000 Jahre urkundlich belegt sei. Die ältesten Funde gibt es in Regensburg um das Jahr 980. Dir Urkunde in Köln hatte nicht nur in der Stadt Köln, sondern im gesamten Reich Gültigkeit, also auch zum Beispiel in Regensburg.

 

Juden wurden seitdem vielfach verfolgt und vertrieben. Was waren die Ursachen?

 

Minderheiten hatten zu keinem Zeitpunkt große Chancen, anerkannt zu werden. Juden konnten immer nur eine gewisse Zeit sesshaft sein und wurden nicht nur in Deutschland, sondern auch zum Beispiel in Frankreich oder der islamischen Welt verfolgt und vertrieben. Häufig passierte dies auch dann, wenn sie von den Herrschenden nicht mehr gebraucht wurden.

 

In Bayern gab es im Mittelalter große Judensiedlungen. Die Spuren sind bis heute in vielen Dörfern in Franken, in denen es bis heute Synagogen und jüdische Friedhöfe gibt, sichtbar. Charlotte Knobloch erläuterte dies am Beispiel ihrer eigenen Familie: ihre Urgroßeltern waren Getreidehändler in Neustadt/Aisch und ihre Großeltern haben sich in Bayreuth niedergelassen bis zum Nazi-Regime. In Altbayern hat es dagegen kaum jüdischen Gemeinden gegeben.

 

Die Vertreibung der Juden vollzog sich immer in Wellen. Die erste war während der Kreuzzüge, als die Juden als Christusmörder bezeichnet wurden. Eine weitere Welle ereignete sich zur Zeit der Pestepedemien. Damals wurden die Juden als Brunnenvergifter tituliert und verfolgt.

 

Ausschreitungen und Vertreibungen sind im 14. Und 15. Jahrhundert dokumentiert, ehe 1442 die Juden aus München und Oberbayern dauerhaft vertrieben wurden. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts siedelten sich Juden wieder in der Stadt an.

Die Verfolgungen setzten sich fort bis in die heutige Zeit.

 

Ein ganz aktuelles Beispiel ist QAnon in den Vereinigten Staaten, deren Anhänger die Verschwörungstheorie verbreiten, dass eine einflussreiche jüdische Gruppierung im Keller einer Pizzeria Kinder schlachte und deren Blut als Verjüngungsdroge trinke. QAnon hat mittlerweile mehrere Millionen Anhänger und organisiert sich weitgehend im Internet, hat aber auch Unterstützung auf privaten Fernsehkanälen.

 

Zu allen Zeiten wurden Juden verantwortlich gemacht für Krankheiten und Unfälle und mussten diesen Irrglauben mit Verfolgung und Vertreibung erleiden. Meist ging die Verfolgung von den Regierenden aus unter Teilnahme der Bevölkerung.

 

Juden lebten häufig in Ghettos und wurden stigmatisiert. Hitler hat während des Dritten Reiches auf die Vergangenheit zurückgreifen können, wie man Juden behandelt und diskriminiert. Die Farbe Gelb als Kennzeichnung geht zurück bis ins Mittelalter. Charlotte Knobloch geht heute noch die gelbe Farbe des Judensterns unter die Haut. Antisemitismus ist nach ihrer Einschätzung keine deutsche Erfindung, hat aber bei uns eine ganz besonders schmerzliche Bedeutung.

 

Als Antisemitismus werden heute alle Formen von Judenhass, pauschaler Judenfeindlichkeit oder Judenverfolgung bezeichnet. Der Ausdruck stammt aus dem Jahr 1879 von dem deutschsprachigen Journalisten Wilhelm Marr.

 

Im 15. Jahrhundert wurden Juden aus Deutschland nach Süden und Osten vertrieben und sie siedelten sich zum Beispiel in Venedig oder auch in der Ukraine und Weißrussland an. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung betrug in manchen Regionen bis zu 80 Prozent.

 

Gleichwohl wurden von den Wittelsbachern die Dienste der Hofjuden als Bankiers gerne in Anspruch genommen.

 

Im 18. Jahrhundert erhielt die Judenverfolgung auch eine wirtschaftliche Dimension mit dem Verbot, Grundeigentum zu erwerben oder sich handwerklich zu betätigen oder dem Zinsverbot, so dass als Betätigungsfelder nur noch Handel und Geldverleih übriggeblieben sind. 1813 erließ der bayerische Minister Montgelas das Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern, welches die rechtlichen Verhältnisse der jüdischen Bewohner in Bayern regelte.

Die Einschreibung in Matrikel (Listen) regelte die Erfassung wohnberechtigter Juden. Da für jeden Ort eine Höchstzahl jüdischer Familien festgelegt wurde, die möglichst noch gesenkt werden sollte, beeinträchtigte die Regelung nicht nur die Freizügigkeit der Juden, sondern auch die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, da eine Heirat von der Obrigkeit genehmigt werden musste.

Männliche Juden durften oft nicht heiraten und waren deshalb gezwungen, zum Beispiel nach Amerika auszuwandern und sich dort eine neue Heimat zu suchen. Die Großmutter von Charlotte Knobloch hat sich selbst noch an den Besuch vom guten Onkel aus Amerika erinnern.

Damals kippte der Antijudaismus in einen pseudo-wissenschaftlichen Antisemitismus. Im Kaiserreich kam es zu einer dramatischen Doppelentwicklung mit der rechtlichen Gleichstellung einerseits und der Verfolgung andererseits, die letztlich in der Schoah geendet hat.

In München hat der Antisemitismus fürchterlich gewütet. Interessanter Weise haben die Nazis aber die jüdischen Friedhöfe nicht angerührt. Während des Dritten Reiches haben Menschen in den Aussegnungshallen gelebt und wurden von den Friedhofswärtern versteckt.

Antisemiten brauchen keine Juden als Ziele. Er fühlt sich bedroht und entwickelt seinen Hass aus den bekannten alten Mustern. Diese Entwicklung können wir auch heute noch in der Coronakrise oder dem Klimawandel beobachten.

Zu allen Zeiten gab es aber auch kirchlichen Antisemitismus, zum Beispiel auch die alte Fassung der Oberammergauer Passionsspiele. Noch 1960 hat die Erzdiözese München und Freising dem Passionsspiel den kirchlichen Segen verweigert. Charlotte Knobloch dankt dem Spielleiter des Passionsspiels, Christian Stückl, für seinen unermüdlichen Einsatz gegen den Rassismus.

 

Wie gestaltet sich das jüdische Leben heute in Bayern?

 

Charlotte Knobloch ist der Bayerischen Staatsregierung ausgesprochen dankbar, dass sie das Judentum konsequent schützt. Gleichwohl ist die Zahl der Juden in den letzten einhundert Jahren stark zurückgegangen und den Gemeinden fehlt der Nachwuchs. Es gibt auch keine Zuwanderung mehr aus dem Osten.

 

In Würzburg, Regensburg, München, Bayreuth, Nürnberg und Augsburg, aber auch in anderen Städten wurden in den letzten Jahren jüdische Einrichtungen neu gebaut oder renoviert. München ist die größte Gemeinde in Bayern. Dort war das Gebiet um die Reichenbachstraße ein jüdisches Viertel.

 

Welche Einrichtungen tragen heute das jüdische Leben in Bayern?

„Wir haben Angebote von der Geburt bis zum Friedhof!“

 

Bei den großen Bereichen jüdischen Lebens ist zunächst die Erziehungsarbeit zu nennen. Frau Knobloch ist stolz darauf, dass heute durchgehende Angebote von einer Kinderkrippe über Kindergartengruppen und Grundschule bis zum Gymnasium gemacht werden können, die nicht nur von jüdischen sondern auch nichtjüdischen Kindern besucht werden.

 

Daneben gibt es einen Sportverein sowie ein Jugendzentrum und eine Kulturabteilung, die für alle Themen offen ist.

 

Ein sehr wichtiger Teil ist die Sozialarbeit. Bei vielen Juden, die in den 90er Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen sind, verweigert der russische Staat heute die Rentenzahlungen. Dies führt dazu, dass viele heute von Altersarmut betroffen wären. Hier dankte Frau Knoblich ausdrücklich der Bayerischen Staatsregierung für ihre Unterstützung.

 

Derzeit zählt die Israelitische Kultusgemeinde München, die ehrenamtlich geführt wird, rund 9.500 Mitglieder. Vertiefende Informationen zur Geschichte finden Interessierte im Internet unter https://www.ikg-m.de.

 

 

Wie kann eine Erinnerungskultur aussehen?

 

Das jüdische Leben hat durch den Antisemitismus einen Riss bekommen. Gerade in der Erziehungsarbeit für die junge Generation muss durch politische Bildung die Erinnerung wachgehalten werden.

 

Der Landesvorsitzende des Bayernbundes, Sebastian Friesinger; bestätigte dies aus eigener Erfahrung am Beispiel eines Besuches der Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg.

 

Deutschland hatte nach dem Ende es zweiten Weltkrieges aufgehört zu existieren. Charlotte Knobloch schilderte die Verhältnisse im völlig zerstörten München aus eigener Erfahrung. Heute erfährt Deutschland weltweit wieder große Anerkennung. Verbunden damit ist aber auch der Auftrag, sich für die Verteidigung der Menschenrechte einzusetzen. Das jüdische Leben ist dafür ein Gradmesser.

 

 

Das Jüdische Museum in München ist Teil der Erinnerungskultur.

 

Die Stadt München ist Träger des Jüdischen Museums am Jakobsplatz. Die Dauerausstellung Stimmen_Orte_Zeiten gibt neue Impulse und Informationen zur Münchner jüdischen Geschichte und Gegenwart.

 

Daneben gibt es aus Anlass des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland die Sonderausstellung „Im Labyrinth der Zeiten“, über die in dieser Ausgabe der Weiß-Blauen Rundschau ein eigener Beitrag erscheint.

 

Welche Aufgaben hat der Antisemitismusbeauftrage der Bayerischen Staatsregierung?

 

Dr. Ludwig Spaenle versteht sich als eine Art Ombudsmann und kümmert sich um viele Anliegen rund um die jüdische Kultur aber ganz besonders um den Antisemitismus, der nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch ist und sich besonders im Internet organisiert.

 

Er regt Maßnahmen an und unterstützt bei Aufgaben, um das jüdische Leben in Bayern zu fördern und zu würdigen, um jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen und präventiv entgegenzuwirken sowie die Erinnerungsarbeit und die Pflege des historischen Erbes zu stärken.

 

Es gibt keine tiefgreifenderen Vorurteile als den Antisemitismus und ist eine herausragende Aufgabe, durch politische Bildung ein Bewusstsein für diese zunehmende Gefahr zu schaffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bilder:

Spitzengespräch im Jüdischen Zentrum in München mit der Präsidentin der Israeltischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern, Charlotte Knobloch (Mitte), dem Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Dr. Ludwig Spaenle MdL (rechts) und dem Landesvorsitzenden des Bayernbundes Sebastian Friesinger (Links). (Foto: Fritz Lutzenberger)

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Charlotte Knobloch (geboren 1932 in München) ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2005 bis 2013 war sie Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses (WJC), von 2003 bis 2010 war sie Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC). Vom 7. Juni 2006 bis zum 28. November 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Vorher war sie seit 1997 dessen Vizepräsidentin.

 

Dr. Ludwig Spaenle MdL, Studium der Geschichte und Katholischen Theologie, 1989 Dr. phil., 2008-2018 Staatsminister für Unterricht und Kultus bzw. Wissenschaft, seit 2018 Sprecher des “Jüdischen Forums in der CSU”, 1994-2018 und seit Mai 2020 Mitglied des Bayerischen Landtages, seit 2018 Beauftragter der bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe,

(Foto: Von Freud – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45167035)